Mehrteiler

11.09.2016 – 23.12.2016

Mal sind es acht, mal nur vier oder sechs, fünf gibt es nicht,
dafür zehn und zwanzig gleich zweimal. Mehrteiler, die neue Ausstellung in der Stiftung für konkrete Kunst, zeigt mit ihrer Auswahl von Reihen- und Serienwerken nicht nur ein wesentliches Gestaltungsprinzip der konkreten Kunst, sondern erinnert zugleich an die besondere Konzeption der Stiftungssammlung, in deren Bestand sich eine außergewöhnlich große Anzahl mehrteiliger Arbeiten befindet.

Damit nicht genug, greift die aktuelle Ausstellung auf ein Konzept zurück, das in der Stiftung nicht neu ist, und das in der Ausstellungsreihe Undsoweiter (2010/2011) exemplarisch vorgeführt wurde. Eines kommt zum anderen, das heißt, die Mehrteiler haben den Raum nicht für sich allein, sondern fügen sich ein in die vorangegangene Ausstellung. Möglich war dies, da die Bildpaare der Ausstellung Stankowski & Co. viel freien Platz gelassen hatten. Durch diese Kombination kommt ein weiterer Aspekt hinzu, nämlich der Unterschied zwischen privater Sammlung (Addition von Einzelwerken) und der Sammlungspolitik einer Institution (Reihe und Serie).

Mehrteiler, die Kunstgeschichte zählt nur bis drei (Triptychon), alles was mehr ist, ist viel (Polyptychon). Ikonostasen, romanische Bildzyklen oder gotische Flügelaltäre, das Prinzip des mehrteiligen Bildes ist nicht neu, doch erst im 20.Jahrhundert wird das serielle Konzept zur Methode. Wobei der Begriff der Serie den systematischen Zusammenhang der Teile oder Elemente strenger definiert als der offenere Begriff der Reihe. Beiden Prinzipien gemeinsam ist jedoch die Kombination von Wiederholung und Variation und das planvolle und folgerichtige Vorgehen des Künstlers,weshalb Reihen- und Serienwerke vor allem in der konkreten, konstruktiven und konzeptuellen Kunst zu finden sind. Eine weiteres gemeinsames, wesentliches Merkmal von Reihen- und Serienwerken ist, dass sie durch die räumliche Abfolge von Elementen dem Betrachter die Dimension der Zeit erfahrbar machen.

Von weitem sieht man nur spiegelnde Plexiglasflächen. Wer die 20 x 20 Bleistiftlinien (1973) von Hartmut Böhm (1938) anschauen und begreifen will, der muss die 15 Meter lange Wand abschreiten. Auf 20 gleichformatigen weißen Blättern hat der Künstler jeweils 20 vertikale Linien gezogen. Auf dem ersten Blatt kaum sichtbar, dann von Blatt zu Blatt deutlicher werdend. Die Erklärung: die Linien sind mit 20 Bleistiften unterschiedlicher Härtegrade gezeichnet, von hart bis weich. Böhm zeigt uns die visuelle Umsetzung eines vorgegebenen Bleistiftsortiments. Diese Arbeit macht das Prinzip der Linie, wie auch zugleich die Idee des linearen Fortschreitens, der Progression in extremer Reduktion und Einfachheit bewußt.

Deutlich übersichtlicher ist die zweite Serie von Hartmut Böhm vier mal anders II (1995). 4 x 4 industriell genormte T-Profile aus Stahl sind in 4 Varianten zu einem Quadrat aneinandergefügt. Doch auch hier ist genaues Hinschauen gefragt, um die Unterschiede zu erkennen.

Mit vertikalen Linien unterschiedlicher Strichstärke arbeitet auch Tom Benson (1963) in seinen Parallells_Greyscales I to 6 (2006). Seine Linienraster sind jedoch so eng, dass sie sich in unserer Wahrnehmung zu unterschiedlich hellen und dunklen, monochromen Grauflächen verbinden. Benson, bekannt geworden als Maler technisch perfekter, monochromer Bildtafeln, interessiert sich seit vielen Jahren für die Möglichkeiten der drucktechnischen Umsetzung von Farbe in Schwarz-Weiß. Und so repräsentieren die mit Tinte auf Aluminiumplatten gezogenen Linienraster der Parallels in Wirklichkeit sechs unterschiedliche Farbwerte.

Auf der Grundlage selbst geschriebener Computerprogramme entstehen die Arbeiten von Manfred Mohr (1938). Die in unterschiedlichen Winkelgraden sich schneidenden, schwarzen Linien der Vierer-Serie P 224/C (1978) sind keine Erfindung des Künstlers. Das komplexe System geschnittener Linien entspricht exakt einer bestimmten, zweidimensionalen Projektion von Würfel-schnitten. Was wir sehen sind Würfelkanten oder diagonale Verbindungslinien von Punktpaaren des vierdimensionalen Hyperwürfels. Wobei die Anschauung nicht so kompliziert ist wie die Beschreibung. Zusätzliche Dynamik erhält die Reihe dadurch, dass Mohr die quadratischen Bildformate auf die Spitze stellt.

Nicht gezeichnet oder gemalt, sondern mit feinen Sägeschnitten in weiß beschichteten Holztafeln konstruiert Ad Dekkers (1938-1974) die Linien der achtteiligen Serie Horizontal, diagonal, vertikal I-VIII. In dieser Bildfolge herrscht die Ordnung, Logik und Orthogonalität der klassischen konkreten Kunst. In acht Schritten werden die Teile der im 90° Winkel sich schneidenden, unterschiedlich langen Strecken subtrahiert oder addiert. Das Programm beeindruckt durch seine Einfachheit, so klar und anschaulich wurde der Unterschied von horizontal-vertikal und diagonal selten vorgeführt. Die besondere Wirkung des Werks entsteht jedoch durch die Schattenwirkung der feinen Sägeschnitte, durch welche sich die Linienstrukturen je nach Standort des Betrachters verändern.

Bei Steffen Schlichter (1967) bestehen die Linien aus schwarzem Klebeband. Das Band wird exakt, Stoß an Stoß, auf eine quadratische Spanplatte geklebt. Die erste Schicht horizontal von der oberen Kante nach unten, darüber eine zweite Schicht vertikal von links nach rechts. Da die Maße von Spanplatte (30 x 30 cm) und Klebeband (48 mm) nicht zusammenpassen, entstehen an den unteren Ecken kleine Fehlstellen. Seit 1995 arbeitet der Künstler mit diesen industriell gefertigten Materialien und den dabei unvermeidlichen Differenzen. Eine mehrteilige Arbeit ist bei Schlichter dann fertig, wenn das Klebeband zu Ende ist, bei der Reihe NY Tapes 2005 No.15 (2010) war dies bei der siebten Platte der Fall.

Ein Meterstab ohne Maßskala, für den praktischen Gebrauch ungeeignet, doch in der Kunst gelten andere Regeln. In der Serie Initialis. ADGA-Relief 1-10 (1978/79) von Thomas Lenk (1933-2014) werden die Zollstockrohlinge zum ästhetischen Objekt. Auf 10 Resopaltafeln (entsprechend den 10 Holzgliedern des Meterstabs?) entfaltet Lenk, im wahren Sinn des Wortes, die erstaunliche Vielfalt eines Alltagsgegenstandes. Horizontal, vertikal, diagonal, in allen Richtungen werden die Elemente geschichtet und aneinandergereiht, der Künstler bleibt seinem Thema der Schichtung und Reihung treu.

20 Rottöne, von rosé gebrochenem Weiß bis hin zu rötlichem Schwarz, 20 carrés rouges traversés par une bande rouge (1983). Vera Molnar (1924) variiert nicht nur die Form, sondern auch die Farbe.Von Teil zu Teil verschiebt sich die Position des horizontalen Bandes, zugleich verändern sich die Farbwerte von quadratischer Grundfläche und Band stufenweise von Hell nach Dunkel.

Dasselbe chromatische Prinzip gilt für die Serie Comment remplir un carré de cercles? (1992-2008).Hier sind es 10 Grautöne, von silbrigem Hellgrau zu Anthrazit. Das dazugehörige Bildprogramm heißt: wie füllt man ein Quadrat mit Kreisen? Vera Molnar visualisiert das Problem in zehn Schritten, von B1: 1 Kreis, bis B10: 10 Kreise. Dass die Kreise mit zunehmender Anzahl auf gleicher Fläche immer kleiner werden müssen, ist logisch, dass sich auch die Farbe verdichtet, die Kreise immer dunkler werden, ist eine Entscheidung der Künstlerin. Ebenso wie der Entschluss, Formveränderung und Farbwechsel zu kombinieren, was die Komplexität der Information eindeutig erhöht.

In ganz anderer Weise komplex sind die Arbeiten von Christian Wulffen (1954). 105/75 6 Teile (1990) sieht auf den ersten Blick eigentlich unkompliziert aus. Alle Teile sind aus einheitlichem, industriell standardisiertem Material (MDF). In gleichem Abstand an der Wand hängen sechs gleiche Rahmenelemente (MDF-Latten, Maße je 105 x 75 cm), an deren oberer oder rechter Außenkante jeweils eine MDF-Platte angefügt ist. Die Maße und Positionen dieser Platten sind alle unterschiedlich. Damit könnte man es bewenden lassen, denn die Anordnung, die Variation der Einzelteile ist nicht uninteressant. Doch um das Konzept des Künstlers zu verstehen, um zu begreifen, warum die Teile nicht zufällig, sondern folgerichtig so und nicht anders aussehen, braucht es in diesem Fall eine Zusatzinformation. Kurz gesagt: Wulffens Arbeit 105/75 6 Teile ist zwar ein eigenständiges Werk, aber es ist auch Teil einer aus drei Arbeiten bestehenden Reihe, die sich formal und inhaltlich direkt aufeinander beziehen. Das heißt, die Maße und Positionen der MDF-Platten leiten sich ab von unterschiedlich zugeschnittenen Packpapierflächen der 1989 entstandenen Arbeit System 105/75 3 Teile. Wie gesagt, es ist etwas komplex.

Einfacher ist der Zugang zur zweiten gezeigten Wulffen-Arbeit, die für die damalige Werkphase exemplarisch ist. Hier gibt uns der Titel die notwendige Information: 105/150 + 105/75 + 105/75 Abstand 5 cm (1990). Es geht um Maß und Zahl, um Bild und Wand. Die exakt zusammengefügten MDF-Latten, die auf den ersten Blick einfach wie leere Rahmen wirken, machen den virtuellen Bildraum sichtbar, das Prinzip der Grenze, die Grenze zwischen Kunst und Realität. An die Stelle des Bildmotivs tritt das Verhältnis des Einen zum Anderen, der Teile zum Ganzen.

Das Ende der Ausstellung wird markiert von einem klassischen konkreten Künstler und einer klassischen Bildform, dem Triptychon Tableau-relief P 898 (1984) von Gottfried Honegger (1917-2016). Obgleich der Künstler sich selbst in erster Linie als Maler verstanden hat, Form entsteht bei ihm immer mit plastischen, nicht mit malerischen Mitteln. In der von ihm entwickelten Technik des Tableau-relief wird die Leinwandfläche mit exakt geschnittenen Quadraten oder Rechtecken aus Karton beklebt, zahlreiche Farbschichten decken die geometrische Struktur zugleich zu und auf.
Die monochromen schwarzen Flächen von P 898 erhalten durch die vielfache Brechung der Kartonränder räumliche Tiefe und Spannung. Ein schmaler weißer Streifen, jeweils an der rechten Bildkante der Tafeln, dessen Breite exakt dem Abstand zwischen den drei Teilen entspricht, verstärkt die räumliche Wirkung. Fuge und Bildstruktur bilden eine Ganzheit, die Wand wird wesentlich, wird konstituierender Bestandteil des Werks. Die Grenze zwischen Bild und Relief, zwischen Bild und Raum wird aufgehoben.

So unterschiedlich die Mehrteiler auch sind, auffallend ist eine eindeutige Dominanz der Linie. Das lineare Prinzip von Reihe und Serie scheint sich auch auf die Wahl der Gestaltungsmittel auszuwirken. Ein zweiter gemeinsamer Aspekt der Arbeiten ist die Balance im Verhältnis von Variante und Konstante, denn es ist eine wahrnehmungstheoretische Tatsache, dass wir zum Erkennen von Veränderung einen festen Bezugspunkt benötigen. Für den Betrachter der wichtigste Punkt ist aber vielleicht, dass uns die Mehrteiler in Bewegung bringen. Von links nach rechts oder umgekehrt, mit wechselnder Distanz die Wand entlang, das kostet Zeit, aber nur so können wir sie sehen und verstehen.

Gabriele Kübler 11.09.2016
Fotos: Manfred Wandel